10.01.2010 | 20:54 | Korrekturen und Ergänzungen

"Mit Leib und Seele" IV

"Es kann aber auch geschehen, dass der eingeschlagene Kurs sich selbst überholt und die Organisationsfähigkeit eine perverse Logik entwickelt: Mit jedem neuen Organisationsgrad, den man erreicht, wird der Antrieb größer, noch weiter zu gehen, sich noch besser zu organisieren, noch aktiver zu werden. Viele Menschen schützen sich vor dieser Gefahr, indem sie sich im Privatleben eher ruhigen Tätigkeiten, die keiner festen Regelmäßigkeit unterliegen, zuwenden.."

(Jean-Claude Kaufmann: "Mit Leib und Seele – Theorie der Haushaltstätigkeit", S. 101)

08.01.2010 | 18:51 | Korrekturen und Ergänzungen

"Mit Leib und Seele" III

"Freizeit wird oft als Gegensatz zur Arbeit gesehen, als ungezwungene, frei gewählte gegenüber einer erzwungenen Form der Zeitgestaltung. Unsere Untersuchung hat eine andere, im allgemeinen unterschätzte Komponente ans Tageslicht gebracht: das Bestreben, die Freizeit zu strukturieren. Dieser Organisationswunsch datiert lange zurück. Robert Castel erinnert daran, dass die Arbeiterbewegung zur Zeit der Einführung des bezahlten Urlaubs versucht hat, eine Konzeption von Urlaub zu entwerfen, die im Unterschied zum Müßiggang der Bourgeoisie darauf abzielte, 'die Zeit auszuschöpfen' und 'sich um eine sinnvolle Freizeitgestaltung zu bemühen' (2000). Die Freizeit ist in Wahrheit genauso von dem Gegensatz zwischen angespanntem und trägem Rhythmus geprägt wie etwa die Hausarbeit.
(...)
Nach all den Verpflichtungen, die sich in der häuslichen Sphäre ergeben, kann es passieren, dass sich deren Rhythmus ganz von selbst fortsetzt und auch auf andere Bereiche überträgt. Eine gut durchorganisierte Freizeit wird dann als Verhaltensnorm empfunden, als nach außen sichtbarer Indikator dafür, dass man gut organisiert ist und sein Leben unter Kontrolle hat. Daher kommt es, dass sich manche verpflichtet fühlen; verpflichtet, das zu haben, was man 'Freizeitbeschäftigungen' nennt. Hat Raymonde wirklich Lust auf ihren Englischkurs und interessiert er sie wirklich? Es sieht viel eher so aus, als habe sie sich in den Kopf gesetzt, dass sie das tun
sollte, als ob ein höheres Gebot für sie entschieden hätte (genauso wie sie früher jeden Tag ihre Kinder baden musste). Aller Wahrscheinlichkeit nach wird von der Gesamtheit aller Freizeitbeschäftigungen der kleinere Teil aus reiner persönlicher Lust betrieben und der Großteil aus irgendeinem Pflichtgefühl heraus."

(Jean-Claude Kaufmann: "Mit Leib und Seele – Theorie der Haushaltstätigkeit", S. 99-100)

08.01.2010 | 01:06 | Korrekturen und Ergänzungen

"Mit Leib und Seele" II

"Das Problem unausgefüllter Zeiten wird kaum beachtet, als sei nur die Kehrseite davon bedeutsam: Hetze, Zeitmangel, Der-Zeit-Hinterherrennen. Dass hier oft die falsche Perspektive angelegt wird, hat mit der besonderen Position der Beobachter (Forscher, Journalisten, Entscheidungsträger) zu tun, die derselben Welt angehören, nämlich eben derjenigen, in der man ständig der Zeit hinterherrennt. Doch es gibt noch eine andere Welt, die quantitativ gesehen bestimmt genauso bedeutend ist und in der es ganz andere, mindestens genauso schwierige Probleme zu lösen gibt, eine andere Welt, die oft vergessen wird, eben gerade weil ihr die Kraft fehlt, sich Gehör zu verschaffen. Gerade im Hinblick auf die aktuellen gesellschaftlichen Debatten um Zeit und Zeiteinteilung richtet das Ausklammern dieser anderen Welt jedoch einen besonders großen Schaden an. Denn die Hälfte der Gesellschaft spricht im Namen aller. Es ist höchste Zeit, mehr über Zeiten des Leerlaufs und schlaffe Lebensrhythmen zu lernen."

(Jean-Claude Kaufmann: "Mit Leib und Seele – Theorie der Haushaltstätigkeit", S. 95-96)

07.01.2010 | 13:57 | Korrekturen und Ergänzungen

"Mit Leib und Seele" I

Ein Buch, von dem ich mir sehr wünsche, ich hätte es vor dem Schreiben von "Dinge geregelt kriegen" entdeckt, ist das schon 1999 erschienene "Mit Leib und Seele – Theorie der Haushaltstätigkeit" des französischen Soziologen Jean-Claude Kaufmann. Den Hinweis auf das Buch verdanke ich Michael Rutschky, und es geht darin um so vieles, was ich gern verwertet oder zitiert hätte, dass ich ersatzhalber in den nächsten Tagen eine kleine Zitatserie daraus machen werde.

Es geht los mit Wegwerfproblemen:

"Irénée versteht nicht so recht, warum es ihr so schwer fällt, sich von den alten Sachen zu trennen: 'Das ist wirklich immer eine schreckliche Arbeit, es fällt mir immer total schwer, mich zu einer Entscheidung durchzuringen, das bereitet mir wirklich Kopfzerbrechen. Und dann nehme ich eins ums andere in die Hand, und schon fallen mir die ganzen Geschichten dazu ein.' Dass die Trennung so problematisch ist, liegt daran, dass dieser alte Gegenstand einen Teil unseres Selbst in sich trägt – und es ist ja nur selbstverständlich, dass es einem schwerfällt, sich von sich selbst zu trennen. Das Ausmisten vertrauter Dinge verweist auf ein identitäres Sortieren, was erklärt, warum es eine solche mentale Schwerstarbeit darstellt." (S. 46-47)

04.01.2010 | 23:02 | Korrekturen und Ergänzungen

Wollen und Mögen

Wir haben uns im Buch um eine entscheidende Frage gedrückt, die zum Glück auch in den nachfolgenden Interviews nur ganz selten gestellt wurde: Wieso ist es oft so schwer, das zu tun, was man eigentlich wirklich gern tun möchte? In "Dinge geregelt kriegen" behaupten wir, prokrastiniert werde das, was man nicht gern tut. Das ist nicht so banal, wie es zunächst klingt. Einige Prokrastinationsbuchautoren aus dem eher therapeutischen Bereich behaupten, prokrastiniert werde nicht primär aus Abneigung, sondern aus allerhand komplizierten und nur durch Therapeuten auflösbaren Gründen. Die große Mehrheit aller Tätigkeiten von hoher Hinausschiebabilität ist aber tatsächlich allgemein als unangenehm anerkannt, und man braucht keinen teuren Therapeuten zur Identifikation dieses guten Prokrastinationsgrundes. Der von uns aus Ratlosigkeit unterschlagene Punkt ist aber, dass es einen kleinen Rest gar nicht schlimmer, ja, sogar ganz angenehmer Tätigkeiten gibt, mit denen anzufangen trotzdem nicht leicht ist.

Jetzt kommt uns die Kavallerie der Neurowissenschaften zu Hilfe und stellt fest, dass – zumindest bei Ratten – Wollen und Mögen vom Gehirn offenbar getrennt verwaltet werden und sich einzeln ein- und ausschalten lassen. Was wir wollen, muss also nicht das sein, was uns, wenn wir es haben, tatsächlich gefällt. Und was wir gern tun, muss nicht das sein, wozu wir einen starken Drang verspüren. Es würde mir gefallen, wenn diese Idee besser ausgearbeitet wäre, aber ich verspüre keinen großen Drang zum Weiterschreiben. Zum Glück hat Yvain bei lesswrong.com viel mehr dazu zu sagen.

19.03.2009 | 16:51 | Korrekturen und Ergänzungen | Berichte und Beispiele

Arztbesuch, später

Petra Thorbrietz schreibt bei carta.info über Falsche Diagnosen durch Technikglauben. Der Beitrag enthält mehrere beruhigende Informationen für Arztbesuch-Aufschieber, darunter diese: "Manchmal ist es ganz gut, Dinge auf die lange Bank zu schieben. Das zeigt sich in England, wo das staatliche Gesundheitssystem lange Wartezeiten vor eine Operation schiebt. Dort ist die Zahl der Rücken-OPs deutlich geringer als in Deutschland: 90 Prozent der Leiden nämlich haben sich innerhalb von 12 Monaten verflüchtigt, obwohl sie nicht behandelt wurden."

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