08.01.2010 | 18:51 | Korrekturen und Ergänzungen

"Mit Leib und Seele" III

"Freizeit wird oft als Gegensatz zur Arbeit gesehen, als ungezwungene, frei gewählte gegenüber einer erzwungenen Form der Zeitgestaltung. Unsere Untersuchung hat eine andere, im allgemeinen unterschätzte Komponente ans Tageslicht gebracht: das Bestreben, die Freizeit zu strukturieren. Dieser Organisationswunsch datiert lange zurück. Robert Castel erinnert daran, dass die Arbeiterbewegung zur Zeit der Einführung des bezahlten Urlaubs versucht hat, eine Konzeption von Urlaub zu entwerfen, die im Unterschied zum Müßiggang der Bourgeoisie darauf abzielte, 'die Zeit auszuschöpfen' und 'sich um eine sinnvolle Freizeitgestaltung zu bemühen' (2000). Die Freizeit ist in Wahrheit genauso von dem Gegensatz zwischen angespanntem und trägem Rhythmus geprägt wie etwa die Hausarbeit.
(...)
Nach all den Verpflichtungen, die sich in der häuslichen Sphäre ergeben, kann es passieren, dass sich deren Rhythmus ganz von selbst fortsetzt und auch auf andere Bereiche überträgt. Eine gut durchorganisierte Freizeit wird dann als Verhaltensnorm empfunden, als nach außen sichtbarer Indikator dafür, dass man gut organisiert ist und sein Leben unter Kontrolle hat. Daher kommt es, dass sich manche verpflichtet fühlen; verpflichtet, das zu haben, was man 'Freizeitbeschäftigungen' nennt. Hat Raymonde wirklich Lust auf ihren Englischkurs und interessiert er sie wirklich? Es sieht viel eher so aus, als habe sie sich in den Kopf gesetzt, dass sie das tun
sollte, als ob ein höheres Gebot für sie entschieden hätte (genauso wie sie früher jeden Tag ihre Kinder baden musste). Aller Wahrscheinlichkeit nach wird von der Gesamtheit aller Freizeitbeschäftigungen der kleinere Teil aus reiner persönlicher Lust betrieben und der Großteil aus irgendeinem Pflichtgefühl heraus."

(Jean-Claude Kaufmann: "Mit Leib und Seele – Theorie der Haushaltstätigkeit", S. 99-100)