15.01.2010 | 08:36 | Korrekturen und Ergänzungen
"Der Tonfall wird jedoch etwas zögerlicher, wenn es um die Kategorie von Gesten geht, die man als besonders abstoßend und unangenehm empfindet, obwohl sie von der Gesellschaft offiziell als etwas eingestuft werden, das eigentlich nicht abstoßend und unangenehm sein darf. Wenn man die Mechanismen, die Widerwillen erzeugen, verstanden hat, wird klar, dass jeder Handgriff, egal welcher, in den Sog des Widerwillens geraten kann. Genauso wie Kloputzen ohne die geringste Abscheu erledigt werden kann, können auch Tätigkeiten, die eigentlich als angenehm definiert sind, zu etwas Grauenerregendem werden. Alles hängt davon ab, ob zwischen Körper und Geist eine Harmonie zustande kommt oder nicht. Doch für den alltäglichen Menschen gibt es innerhalb dieses seltsamen Mechanismus, zu dem er keinen Zugang hat, noch einen weiteren Anlass für Ärger.
Nehmen wir das Beispiel von Tätigkeiten, die man sich freiwillig zusätzlich aufgehalst hat. Man sagt sich beispielsweise, dass es doch eine gute Sache wäre, einen gepflegten Rasen zu haben (ohne eine genaue Vorstellung davon zu haben, was für einen Arbeitsaufwand regelmäßiges Mähen bedeutet) (...). Es scheint sich um eine freie Entscheidung zu handeln, aus reinem Vergnügen. Aber in Wirklichkeit ist diese Entscheidung oft die automatische Folge eines Ereignisses und lässt nur wenig Entscheidungsspielraum (der Hauskauf führt einen, ob man will oder nicht, in das Reich des Rasenmähens ein; der Goldfisch, den man vom Jahrmarkt mitgebracht hat, lässt einen unweigerlich die Freuden des Unterhalts eines Aquariums entdecken etc.) Und hat sich die Tätigkeit dann erst einmal bei einem niedergelassen, wird es schwierig, sie wieder in Frage zu stellen. Ihr offiziell freiwilliger und optionaler Charakter widersetzt sich einer Einordnung in die Rubrik der normalen Haushaltspflichten, die mehr oder weniger routinisiert werden können, weil 'man sie eben machen muss'. Die betreffende Zusatztätigkeit muss also ständig dadurch bestätigt werden, dass man sich die Gründe in Erinnerung ruft, die, zumindest theoretisch, ausschlaggebend für die Entscheidung waren. Sobald gegen die Tätigkeit Widerwille aufkommt, werden also diese Gründe ins Bewusstsein gerufen, und über einen Mechanismus, den wir bereits kennengelernt haben, vergrößert sich die Distanz zwischen Körper und Geist, wobei der Blick auf sich selbst ein Gefühl der Fremdheit und Äußerlichkeit der Geste erzeugt, wenn die Gründe keine Gültigkeit mehr haben. So können auf völlig unverständliche Weise Tätigkeiten, für die man sich bewusst entschieden hat und die eigentlich eher eine Art Hobby darstellen, in der Hitparade des Widerwillens plötzlich einen der vordersten Plätze einnehmen. Beim einen ist das der Rasen, beim anderen das Reinigen des Grills oder der Plastikwanne. Wie es der Zufall wollte, kam bei unserer Stichprobe ein wahrer Jammerchor von Leuten zusammen, die alle von ihren Katzen genervt sind."
(Jean-Claude Kaufmann: "Mit Leib und Seele – Theorie der Haushaltstätigkeit", S. 198-199)